Prof. Dr. Wolfgang Scherf
Volkswirtschaftslehre und Öffentliche Finanzen

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Wolfgang Scherf

Selbstfinanzierungseffekte antizyklischer Finanzpolitik

Hans-Werner Sinn hat „Eine Anmerkung zur Selbstfinanzierungsthese und zum keynesianischen Modell“ publiziert (Sinn 2014). Er will damit beweisen, dass eine Selbstfinanzierung expansiver finanzpolitischer Maßnahmen im Rahmen des keynesianischen Modells unmöglich ist. Dieser Beweis kann meines Erachtens nicht überzeugen.

Selbstfinanzierung ausgeschlossen?

Sinn operiert mit einem einfachen keynesianischen Einkommen-Ausgaben-Modell. Das Sozialprodukt (Y) entspricht (in einer geschlossenen Volkswirtschaft) der Summe aus Konsum (C), Investitionen (I) und Staatsausgaben für Güter und Dienstleitungen (G):

   (1)   Y  =  C + I + G

Die Einnahmen des Staates aus Steuern und Sozialabgaben variieren nach Maßgabe der Abgabenquote (t) mit dem Sozialprodukt:

   (2)   T  =  t Y

Die Konsumausgaben hängen vom verfügbaren Einkommen nach Steuern ab:

   (3)   C  =  Cº + c (1 – t) Y

Alle anderen Nachfrageparameter sind autonom:

   (4)   I  =  Iº

   (5)   G  =  Gº

Mithin gilt für die Gesamtnachfrage:

   (6)   Y  =  Cº + Iº + Gº + c (1 – t) Y

Auflösen nach dem Sozialprodukt führt zu:

   (7)   Y  =  1 / [1 – c (1 – t)]  (Cº + Iº + Gº)  =  m (Cº + Iº + Gº)

Das gleichgewichtige Sozialprodukt wird bestimmt durch den Einkommensmultiplikator (m) und die autonomen Ausgaben.

Eine kreditfinanzierte Erhöhung der Staatsausgaben bewirkt einen Anstieg des Sozialprodukts:

   (8)   ∆Y  =  m ∆Gº

Hieraus ergeben sich Mehreinnahmen für den öffentlichen Haushalt:

   (9)   ∆T  =  t ∆Y  =  t m ∆Gº

Diese Mehreinnahmen kann der Staat zur Verminderung seines zunächst um die Mehrausgaben gestiegenen Defizits (D) verwenden.

   (10)   ∆D  =  ∆Gº – t ∆Y  =  (1 – t m) ∆Gº

Eine vollständige Selbstfinanzierung der ursprünglich kreditfinanzierten Mehrausgaben ergibt sich unter der Bedingung:

   (11)   t m  =  t / [1 – c (1 – t)]  =  1

Diese Bedingung ist im vorliegenden Fall nur erfüllt, wenn die marginale Konsumquote c oder die Abgabenquote t gleich 1 ist. Da beides ausgeschlossen werden kann, scheint die Unmöglichkeit einer kompletten Selbstfinanzierung antizyklischer Defizite bewiesen zu sein. Im gewählten Modellrahmen ist diese Erkenntnis übrigens weder verblüffend, noch neu. Ich habe dieselbe Argumentation für das einfache keynesianische Modell bereits vor 30 Jahren vorgetragen (Scherf 1985, 359).

Selbstfinanzierung ist theoretisch möglich

Gegen die Argumentation von Sinn lässt sich zunächst einmal die Verengung auf das keynesianische Basismodell anführen. Eine Selbstfinanzierung ist nämlich keineswegs ausgeschlossen, wenn neben dem Konsum auch die Investitionen positiv auf einen Anstieg des Sozialprodukts reagieren. Das dürfte realistisch sein, weil die Unternehmen eher investieren, wenn sich die Absatzlage bessert und die Kapazitätsauslastung steigt. Zur Illustration sei angenommen:

   (12)   I  =  Iº + π Y

Dann gilt:

   (13)   m  =  1 / [1 – c (1 – t) – π]

Selbstfinanzierung setzt nun voraus (Scherf 1985, 360):

   (14)   t m  =  1   bzw.   t  =  1 – [π / (1 – c)]

Beispielsweise ist diese Bedingung erfüllt für c = 0,9, π = 0,06, t = 0,4 und m = 2,5.

Wenn nicht nur die Staatseinnahmen, sondern auch die Ausgaben – wegen der Arbeitslosenversicherung – konjunkturelastisch sind, reduziert sich der erforderliche Selbstkonsolidierungsmultiplikator. Als Negativsteuern kann man solche Ausgaben formal leicht integrieren in Form einer Erhöhung von t. Zum Beispiel reicht bei einer Budgetelastizität von t = 0,5 eine marginale Investitionsquote von π = 0,05 bzw. ein Multiplikator von m = 2 zur vollständigen Selbstfinanzierung der staatlichen Mehrausgaben.

Man kann zudem über die Primäreffekte der Staatsausgaben eine Selbstfinanzierung begründen. Wenn die Staatsausgaben im ersten Schritt eine private Mehrnachfrage induzieren, sinken die Konsolidierungsanforderungen deutlich. Der Staat kann z.B. Investitionen der privaten Haushalte und Unternehmen mit einer prozentualen Zulage (z) fördern. Auch wenn Mitnahmeeffekte den Wirkungsgrad senken (α < 1), werden zusätzliche Investitionen angeregt:

   (15)   ∆Iº  =  α ∆I

mit ∆I für das geförderte Investitionsvolumen. Die staatlichen Subventionsausgaben (Z) steigen um:

   (16)   ∆Z  =  z ∆I

Bezogen auf den staatlichen Mitteleinsatz gilt für den Subventionsmultiplikator (m’):

   (17)   m’  =  ∆Y/∆Z  =  (α/z) ∆Y/∆Iº  =  (α/z) m

Eine 20-prozentige Investitionszulage hat selbst bei einem Wirkungsgrad von nur 40% den 2-fachen Investitionsmultiplikator auf ihrer Seite, was eine Selbstfinanzierung der Investitionsprämien leicht möglich macht. Insgesamt kann der Selbstfinanzierungsgrad der Fiskalpolitik durch Ausgaben mit Primäreffekten über 1 deutlich gesteigert werden.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich der durch den Staat gesetzte antizyklische Impuls bei keynesianischen Erwartungen positiv auf die Ausgaben-Parameter der privaten Wirtschaftssubjekte auswirken kann. Möglich sind dann Selbstfinanzierungseffekte abseits des einfachen Multiplikators: Im gestärkten Vertrauen auf eine konjunkturelle Besserung neigen Konsumenten und Investoren zu höheren Ausgaben, die den Aufschwung beschleunigen. Die Umkehrung negativer Zukunftserwartungen (und nicht der reine Multiplikator) ist vielleicht der eigentliche Kern der keynesianischen Botschaft.

Mein Fazit lautet daher: Die Zurückweisung der Selbstfinanzierungsthese wird von Hans-Werner Sinn nicht überzeugend begründet. Ich gestehe gerne zu, dass meine Anmerkungen noch keinen Gegenbeweis darstellen. Sie zeigen aber immerhin, dass eine Selbstfinanzierung theoretisch möglich ist (vgl. im Einzelnen: Scherf 1985).

Selbstfinanzierung ist nicht erforderlich

Gegen die vorgetragene Argumentation mag man einwenden, dass monetäre und außenwirtschaftliche Einflüsse den Selbstfinanzierungsgrad schmälern können. Allerdings sind derzeit die monetären Voraussetzungen extrem günstig. Eine Verdrängung privater Investitionen durch staatsschuldenbedingte Zinssteigerungen erscheint ausgeschlossen. In einer offenen Volkswirtschaft kann ein Teil der expansiven Effekte aber – insbesondere bei festen Wechselkursen oder in der Eurozone – durch vermehrte Importe aufgezehrt werden. Das würde sich in einem kleineren Multiplikator und entsprechend geringeren Selbstfinanzierungseffekten niederschlagen.

Ein Selbstfinanzierungsgrad von 100% ist aber gar nicht erforderlich, um eine expansive Finanzpolitik in der Rezession zu rechtfertigen. Bei symmetrischer Konjunkturpolitik gleichen sich antizyklische Restdefizite und -überschüsse halbwegs aus und verlieren im Wachstum schnell an Bedeutung. Restdefizite sprechen also nicht gegen ein moderates Deficit Spending in der Rezession. Aus dem Ruder laufende Staatsschulden gehen in der Realität nicht auf konjunkturbedingte und antizyklische Defizite zurück, sondern auf finanzpolitische Entscheidungen abseits der stabilitätspolitischen Rationalität, die strukturelle Defizite erzeugen. Das aber hat mit der Selbstfinanzierungsfrage nichts zu tun.


Literatur

Sinn, H.-W. (2014), Eine Anmerkung zur Selbstfinanzierungsthese und zum keynesianischen Modell, in: ifo-Schnelldienst 23/2014, 3-4.

Scherf, W. (1985), Budgetmultiplikatoren. Eine Analyse der fiskalischen Wirkungen konjunkturbedingter und antizyklischer Defizite, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 200, 349-363.

Scherf, W. (2013), Schuldenpolitik zwischen Stabilisierung und Konsolidierung (mit A. Oberhauser), in: A. Eschbach u. a. (Hrsg.), Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise: Ansätze für eine erfolgreiche Geld-, Finanz- und Immobilienpolitik, Berlin, 127-141.


2014 © Wolfgang Scherf

Finanzwissenschaftliche Arbeitspapiere 91-2014
Der Beitrag ist auch erschienen auf Ökonomenstimme