Prof. Dr. Wolfgang Scherf
Volkswirtschaftslehre und Öffentliche Finanzen

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Wolfgang Scherf

Chancen und Risiken des Steuerwettbewerbs

Funktionsfähiger Wettbewerb ist eine nützliche Einrichtung. Die freiwillige Koordination der wirtschaftlichen Pläne der Konsumenten und Produzenten über Märkte löst das Knappheitsproblem in der Regel am besten. Der Wettbewerb sorgt für eine Orientierung der Produktion an den Wünschen der Konsumenten. Allerdings funktioniert der Wettbewerb auf privaten Märkten nur bei Individualgütern. Zudem muss er durch verbindliche Spielregeln, durch eine staatliche Wettbewerbsordnung gesichert werden.

Fiskalischer Wettbewerb kann nützlich sein

Lässt sich das Prinzip des freien Wettbewerbs innerhalb eines verbindlichen Ordnungsrahmens auf den Staat übertragen? Kann man die Effizienz des öffentlichen Sektors durch Konkurrenz der Anbieter staatlicher Leistungen verbessern? Dafür spricht, dass der fiskalische Wettbewerb ein Entdeckungsverfahren ist. Regional differenzierte Steuer-Leistungs-Systeme liefern Informationen und Erfahrungen, die zur Verbesserung der öffentlichen Einrichtungen beitragen können.

Die Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs hängt allerdings davon ab, dass die Empfänger staatlicher Leistungen, die politischen Entscheidungsträger und die Steuerzahler auf jeder Staatsebene weitgehend übereinstimmen. Nur dann herrschen Konnexität und fiskalische Äquivalenz. Das Konnexitätsprinzip fordert die Kongruenz der Entscheidungs- und Kostenverantwortung: Wer bestellt, bezahlt. Die fiskalische Äquivalenz verlangt zudem, dass die Nutznießer der Staatsleistungen die Bereitstellungskosten tragen.

Konnexität und fiskalische Äquivalenz sollen die Staatstätigkeit begrenzen. Zwischen den positiven Wirkungen der öffentlichen Ausgaben und den Belastungseffekten der Besteuerung wird besser abgewogen, wenn man alle relevanten Kosten und Nutzen berücksichtigen muss und keine Ausdehnung der Staatsleistungen zu Lasten Dritter beschließen kann.

Die Finanzverfassung stellt einen Ordnungsrahmen für den Wettbewerb der Gebietskörperschaften zur Verfügung. Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen der einzelnen Staatsebenen können so aufeinander abgestimmt werden, dass ein hohes Maß an Finanzautonomie zustande kommt und selbstverantwortliches Handeln gefördert wird. Allerdings ergeben sich selbst im Rahmen eines einheitlichen Rechtssystems gravierende Hindernisse für einen effizienten Steuerwettbewerb.

Staatsleistungen sind nur begrenzt wettbewerbstauglich

Ein wesentlicher Grund für die Übernahme bestimmter Aufgaben durch den Staat liegt darin, dass der Markt diese Aufgaben gar nicht oder nicht zufriedenstellend regelt. Daher stellt sich die Frage, welche Staatsleistungen für fiskalischen Wettbewerb überhaupt in Betracht kommen. Sozialtransfers zählen nicht dazu, weil Verteilungspolitik nicht dezentral geregelt werden kann. Gleiches gilt die Stabilitätspolitik.

Bei den übrigen Staatsausgaben handelt es sich häufig um öffentliche Güter, die nicht individuell, sondern kollektiv konsumiert werden und bei denen das marktwirtschaftliche Ausschlussprinzip versagt. Klassische Beispiele sind die innere und äußere Sicherheit, aber auch die kommunale Straßenbeleuchtung oder der Betrieb von Leuchttürmen. Der Nutzen reiner öffentlicher Güter kann nicht sinnvoll beziffert und zerlegt werden. Daher ist es unmöglich, einen Markt zu simulieren, auf dem das staatliche Angebot auf die individuelle Nachfrage trifft.

Bei vielen Staatsleistungen lassen sich jedoch die Nutzergruppen abgrenzen (z.B. Verkehrsteilnehmer) und halbwegs plausible Indikatoren für die Inanspruchnahme finden (z.B. Benzinverbrauch). In solchen Fällen ist immerhin eine grobe gruppenmäßige Äquivalenz herzustellen. Für fiskalischen Wettbewerb reicht das allein aber noch nicht aus. Hinzukommen muss die regionale Separierbarkeit der Kosten und Nutzen.

Das Beispiel der Verkehrsinfrastruktur illustriert die Problematik. Autobahnen in Hessen werden nicht nur von hessischen Autofahrern genutzt. Wenn man die Hessen allein entscheiden und bezahlen ließe, dann würde die Verkehrsinfrastruktur nicht zu den Präferenzen der Bürger und Unternehmen passen und das Effizienzziel würde verfehlt. Räumliche externe Effekte sprechen in diesem Fall für eine zentrale Bereitstellung der Leistungen, also für Bundesautobahnen und gegen Länderwettbewerb. Das gilt generell für staatliche Infrastruktur mit überregionaler Bedeutung, z.B. auf Hochschulen oder Energieversorgung.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass fiskalischer Wettbewerb nur funktionieren kann, wenn es sich um regionale Staatsleistungen handelt, die sich bestimmten Nutzergruppen zuordnen lassen und keine nennenswerten externen Effekte erzeugen.

Fiskalische Gerechtigkeit versus fiskalische Äquivalenz

Grenzen für den fiskalischen Wettbewerb ergeben sich auch aus den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürger. Sie sind von den Vorteilen regional differenzierter Steuern und Staatsleistungen nicht leicht zu überzeugen. Viele Bürger halten eine ungleiche Versorgung per se für ungerecht, eine ungleiche Besteuerung ebenso. Diese Aversion gegenüber der Ungleichheit ist zumindest teilweise begründet.

Fiskalischer Wettbewerb zwischen Gebietskörperschaften impliziert regionale Unterschiede in der Versorgung mit Staatsleistungen. Diese Differenzen können nur als gerecht gelten, wenn für höhere Leistungen pro Kopf auch höhere Steuern pro Kopf gezahlt werden müssen. Die Gebietskörperschaften unterscheiden sich jedoch in ihren Möglichkeiten. Regionen mit geringer Wirtschafts- und Steuerkraft müssen ihre Bürger für dasselbe Versorgungsniveau relativ höher belasten. Darin begründete Unterschiede in der Pro-Kopf-Belastung werden überwiegend nicht mehr als gerecht angesehen.Hinzu kommt, dass Regionalpolitiker sich nicht an den Bürgerpräferenzen, sondern bestenfalls an den Wünschen der Mehrheit orientieren. Sie neigen zur Umverteilung über öffentliche Leistungen unabhängig von den gezahlten Beiträgen.

Mithin ist nicht zu erwarten, dass Steuerwettbewerb im Ergebnis zu einer besseren Balance zwischen persönlicher Steuerlast und Inanspruchnahme staatlicher Leistungen führt. Ohne eine solche Verbindung erscheint es aus der Sicht des Einzelnen jedoch naheliegend, für eine gleichmäßige und weitgehend einheitliche Versorgung mit Staatsleistungen zu plädieren. Er sichert sich damit gegen das Risiko ab, in seiner Region ein relativ schlechtes Niveau und eine unpassende Struktur der Staatsleistungen hinnehmen zu müssen – u.U. trotz persönlich hoher Steuerzahlung.

Föderaler Wettbewerb ist daher kein Selbstläufer. Man muss Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Konkurrenz zwischen Kollektiven, die der Einzelne weder wirksam beeinflussen, noch einfach wechseln kann, bessere Staatsleistungen erzeugt. Zu diesen Bedingungen gehören: (1) Staatsleistungen, die örtlich radizierbar sind, d.h. nahezu ausschließlich den Mitgliedern einer Gebietskörperschaft zugute kommen, (2) eine ebenfalls örtlich radizierbare Besteuerung, die eine überwiegende Finanzierung der Leistungen durch die Nutznießer sicherstellt, sowie (3) eine für den überwiegenden Teil der Bevölkerung fühlbare Verbindung zwischen Steuerlast und regional verfügbaren Leistungen.

Die genannten Punkte dienen der Herstellung fiskalischer Äquivalenz innerhalb der Gebietskörperschaften, gewährleisten aber noch keine fiskalische Gerechtigkeit zwischen den Gebietskörperschaften. Aufgrund der regionalen Unterschiede in der Bemessungsgrundlage ist der Steuersatz bei gleicher Versorgung in armen höher als in reichen Regionen. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung fällt daher unterschiedlich aus, selbst bei gleicher Qualität der politischen Institutionen, was dem Äquivalenzprinzip widerspricht.

Dieser Defekt rückt eine weitere fundamentale Bedingung für funktionsfähigen fiskalischen Wettbewerb in den Fokus: Unentbehrlich ist ein Finanzausgleich, der Chancengerechtigkeit zwischen armen und reichen Regionen herstellt. Ein begrenzter, nicht anreizschädlich überdehnter Finanzausgleich soll ein regional annähernd gleiches Versorgungspotential gewährleisten und damit faire Konkurrenz um bessere Steuer-Leistungs-Verhältnisse ermöglichen.

Dank Finanzausgleich muss der Steuerzahler nicht mehr befürchten, nur deshalb weniger Staatsleistungen zu erhalten, weil er einer finanzschwachen Gruppe angehört. Dies dürfte die Akzeptanz regionaler Unterschiede entscheidend verbessern. Insofern ist der Finanzausgleich eine notwendige Voraussetzung für politisch durchsetzbaren und funktionsfähigen fiskalischen Wettbewerb.

Föderaler Steuerwettbewerb in der Praxis

In Deutschland findet Steuerwettbewerb vor allem auf der kommunalen Ebene statt. Aufgrund der Defekte der Gewerbesteuer leidet er jedoch an erheblichen Funktionsstörungen. Die Gewerbesteuer gewährleistet keine Äquivalenz zwischen Steueraufkommen und Leistungen für Unternehmen. Die Bemessungsgrundlage ist regional sehr ungleichmäßig verteilt. Reiche Gemeinden können niedrige Steuersätze bei guter Infrastruktur anbieten; arme Gemeinden können nur wählen, ob sie Unternehmen mit hohen Hebesätzen oder geringen Leistungen abschrecken.

Der kommunale Steuerwettbewerb könnte wesentlich besser funktionieren. Hierzu müsste die Gewerbesteuer durch eine regional weniger stark streuende allgemeine Unternehmensteuer ersetzt werden. Zudem müssten auch die Einwohner regional differenziert besteuert werden. Um der Gefahr vorzubeugen, dass Parlamente zulasten einer zahlenden Minderheit entscheiden, sollte man allerdings einen Referendumsvorbehalt für Steuerbeschlüsse vorsehen, eventuell auch qualifizierte Mehrheiten.

Das Beispiel der kommunalen Einkommensteuer illustriert die Rolle der Finanzverfassung für den Steuerwettbewerb. Alle Regelungen zur Steuerpflicht und zur Abgrenzung der Bemessungsgrundlage gelten bundeseinheitlich. Die regionale Steuerautonomie erstreckt sich nur auf den regionalen Teilsteuersatz. Der einheitliche Rechtsrahmen ermöglicht eine konsistente Einkommensbesteuerung unter Beachtung der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen und erhöht zugleich die Transparenz des Steuerwettbewerbs.

Internationaler Steuerwettbewerb funktioniert nicht

Auf der internationalen Ebene fehlt ein solcher Rahmen für fairen fiskalischen Wettbewerb. Daher sollte es eigentlich nicht überraschen, dass der internationale Steuerwettbewerb nicht funktioniert und eine Reihe schädlicher Nebenwirkungen entfaltet.

Schon der Begriff —Steuerwettbewerbñ ist erhellend. Es geht nämlich in der Praxis gar nicht darum, die Staatsleistungen mit den Steuerbelastungen der Bürger und insbesondere der Unternehmen in Einklang zu bringen, wie es die fiskalische Äquivalenz verlangt. Dann müssten die Nationalstaaten mit einem Paket an Leistungen und Gegenleistungen konkurrieren, das unterschiedlich zusammengestellt, aber nicht zulasten Dritter geschnürt werden darf.

Die Realität sieht aber ganz anders aus. Die Nationalstaaten bemühen sich mit attraktiven Steuerbedingungen um die Ansiedlung von Unternehmen und Finanzkapital. Attraktiv sind die Steuerkonditionen aber nicht, weil diese Länder gute Leistungen besonders kostengünstig anbieten, sondern weil die Steuerzahler ihre Leistungen weiterhin woanders abrufen und sich die faire Gegenleistung hierfür ersparen können.

International tätige Unternehmen verschieben beispielsweise ihre Gewinne an Niedrigsteuerstandorte, ohne ihre Produktionsaktivitäten dorthin zu verlagern. Sie nutzen aber weiterhin die staatliche Infrastruktur ihrer Produktionsstandorte, ohne sich hinreichend an der Finanzierung zu beteiligen. Die Folge ist eine Erosion der staatlichen Finanzierungsbasis verbunden mit einer Verschiebung der Steuerlasten auf die weniger mobilen Produktionsfaktoren, insbesondere auf die Arbeitnehmer.

Dieser Steuersenkungswettlauf unterminiert zentrale Steuerprinzipien. Der Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit wird zunehmend missachtet. Auch in Deutschland haben wir uns von der Idee einer gleichmäßigen Besteuerung aller Einkommen faktisch verabschiedet. Gewinne werden anders besteuert als Löhne, Zinsen werden anders besteuert als Dividenden. Da kein Effizienzgewinn durch den internationalen Steuerwettbewerb in Sicht ist, wird die Steuergerechtigkeit auch noch völlig umsonst aufs Spiel gesetzt.

Hinzu kommt, dass nur kleine Länder von Steuersenkungen profitieren, weil sie bei der Bemessungsgrundlage mehr Steueraufkommen gewinnen als sie durch niedrige Steuersätze verlieren. Große Staaten können den Steuerwettbewerb nicht gewinnen. Sie sollten stattdessen eine faire Standortkonkurrenz mit gemeinsamen Spielregeln organisieren.

Die von einigen Ländern betriebene massive Begünstigung der Steuerhinterziehung hat eine noch weiter reichende Dimension. Hierbei handelt es sich nicht einmal ansatzweise um fiskalischen Wettbewerb, sondern um den Versuch, die Steuerhoheit anderer Länder zu unterlaufen und deren Steuerkraft ohne Gegenleistung abzuschöpfen. Das entbehrt nicht nur jeder ökonomischen Rechtfertigung, sondern untergräbt auch die Steuermoral der ehrlichen Bürger und Unternehmer.

Mein Fazit lautet daher: Föderaler Steuerwettbewerb unter dem Dach einer gemeinsamen Finanzverfassung kann produktiv und gerecht sein. Internationale Steuerkonkurrenz mit fragwürdigen Gewinnverschiebungsmodellen und Steueroasen verdient dagegen keinerlei Unterstützung.


2013 © Wolfgang Scherf

Finanzwissenschaftliche Arbeitspapiere 90-2013
Der Beitrag ist auch erschienen auf Wirtschaftliche Freiheit