Prof. Dr. Wolfgang Scherf
Volkswirtschaftslehre und Öffentliche Finanzen

A   Allgemeine Grundlagen

A-1   Gegenstand der Finanzwissenschaft

Die Finanzwissenschaft ist neben der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik die dritte klassische Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre. Sie befasst sich mit der Rolle des Staates in der Marktwirtschaft und analysiert die vielfältigen und weitreichenden staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen.

Erkenntnisobjekt

Gegenstand der Finanzwissenschaft sind alle ökonomischen Aspekte des Staatshandelns. Im Vordergrund stehen staatliche Aktivitäten, die mit Einnahmen oder Ausgaben verbunden sind. Daher kann man diese Disziplin auch als Lehre von den öffentlichen Einnahmen und Ausgaben bzw. als Lehre von den öffentlichen Finanzen bezeichnen.

Die Abgrenzung des Staates variiert im Zeitablauf und im internationalen Vergleich. Unstrittig werden die Gebietskörperschaften zum Staat gezählt, also Bund, Länder und Gemeinden, oft auch die Europäische Union. Im weiteren Sinne gehören zum Staatssektor aber auch die so genannten Parafisci, insbesondere die Sozialversicherungen, sowie die öffentlichen Unternehmen.

Die Finanzwissenschaft konzentriert sich meist auf den Zentralstaat. In föderalen Staaten sind aber auch die Finanzbeziehungen zwischen den verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen, denn politische Willensbildung und die Aufgabenerfüllung werden hiervon erheblich beeinflusst. Zudem dürfen die Sozialversicherungen schon mit Blick auf ihre quantitative Bedeutung nicht ausgeklammert werden.

Staatswirtschaft

Der Begriff Finanzwissenschaft wird oft missverstanden. Staatliche Einnahmen und Ausgaben spielen zwar eine wichtige Rolle, aber letztlich geht es um Entscheidungen über knappe Güter, die von öffentlichen Institutionen getroffen werden. Gegenstand der Finanzwissenschaft ist also das wirtschaftliche Handeln des Staates mit einnahmen- und ausgabenpolitischen Instrumenten.

Die Art der Bedürfnisbefriedigung unterscheidet sich zwischen Staats- und Privatwirtschaft. Im privaten Sektor herrscht marktwirtschaftliche Produktionslenkung. Die Zahlung des Kaufpreises ist Voraussetzung zur Erlangung wirtschaftlicher Güter. Wer nicht bereit oder nicht in der Lage ist, den Marktpreis zu entrichten, wird von der Nutzung der Güter ausgeschlossen.

Im öffentlichen Sektor werden die Leistungen nicht verkauft, sondern allen Bürgern oder bestimmten Gruppen unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Die Deckung der Kosten erfolgt durch Zwangsabgaben. Deren Verteilung auf die Bürger ist in der Regel nicht an die Verteilung der Ausgaben und erst recht nicht an die Streuung des Nutzens der Staatstätigkeit gebunden.

Bereiche

Die positive Finanzwissenschaft analysiert Ursachen und Wirkungen staatlichen Handelns. Dagegen fragt die normative Finanzwissenschaft danach, wie ein erwünschter Zustand der Volkswirtschaft durch Staatshandeln erreicht werden kann. Der normative Ansatz basiert überwiegend auf der Wohlfahrtstheorie. Der Staat soll Marktversagen korrigieren und einen pareto-optimalen Zustand anstreben.

Die Wirkungsanalyse ist vor allem Gegenstand der Finanztheorie. Deren Erkenntnisse bilden die Grundlage der Finanzpolitik, die sich mit der zielgerichteten Gestaltung der öffentlichen Einnahmen und Ausgaben befasst. Die Übergänge sind fließend. Zum Beispiel können die Wirkungen der Einkommensteuer theoretisch analysiert und zugleich politische Reformvorschläge diskutiert werden.

Verbindungen

Die Finanzwissenschaft ist ein wichtiger Teil der Volkswirtschaftslehre, hat aber auch Bezüge zu anderen Wissenschaften.

Die betriebswirtschaftliche Steuerlehre kann die Finanzwissenschaft bei der Analyse der Steuerwirkungen unterstützen. Sie fokussiert sich auf die optimale Anpassung der Unternehmen an bestehende Steuernormen. Für die Finanzwissenschaft ist die Frage nach den Steuerwirkungen damit noch nicht beantwortet. Hierzu bedarf es der Einbeziehung gesamtwirtschaftlicher Ziele und Effekte.

Verbindungen zur Rechtswissenschaft bestehen, weil staatliche Institutionen und Handlungsspielräume durch Rechtsnormen definiert sind. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber mehrfach zu Reformen gezwungen, beispielsweise durch Urteile zur Ehegattenbesteuerung, zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinder sowie zur Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und Grundsteuer.

Des Weiteren muss die Finanzwissenschaft politische Aspekte berücksichtigen. Öffentliche Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen werden politisch bestimmt. Finanzwissenschaft ist daher politische Ökonomie. Sie wendet das ökonomische Instrumentarium auf kollektive Entscheidungen und Institutionen an, die im Zentrum der politischen Wissenschaft stehen.