Prof. Dr. Wolfgang Scherf
Volkswirtschaftslehre und Öffentliche Finanzen

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Wolfgang Scherf

Defizitarten und ihre stabilitätspolitische Bedeutung

Die Staatsverschuldung gerät immer wieder in die wirtschafts- und finanzpolitische Diskussion. Für die einen ist sie Hauptursache wirtschaftlicher Krisen, für die anderen wesentliches Instrument zu deren Behebung. Der vorliegende Beitrag analysiert Wechselwirkungen zwischen staatlichen Defiziten und gesamtwirtschaftlicher Entwicklung, deren Kenntnis für eine Beurteilung staatlicher Schuldenpolitik unerlässlich ist.

Simultane Bestimmung von Sozialprodukt und Staatsdefizit

Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht lässt sich aus der Übereinstimmung zwischen den privaten Ersparnissen (S) und der Nachfrage nach investierbaren Mitteln ableiten. Letztere besteht in einer offenen Volkswirtschaft mit Staat aus der Summe von Investitionen (I), Nettoexporten (NX) und Staatsdefizit (D). Da das Staatsdefizit hier im Fokus steht, bietet es sich an, die erweiterte IS-Identität danach aufzulösen. Im Gleichgewicht muss das Staatsdefizit den Ersparnissen abzüglich der Investitionen und der Nettoexporte entsprechen: D = S - I - NX. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass Sozialprodukt und Staatsdefizit grafisch simultan bestimmt werden können.

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Abbildung 1 enthält die Defizitfunktion und die kombinierte SINX-Funktion. Das Staatsdefizit sinkt, wenn das Sozialprodukt steigt, weil daraus mehr Steuern und weniger Transfers an Arbeitslose resultieren. Die SINX-Funktion steigt tendenziell an, weil die Ersparnisse mit dem Sozialprodukt wachsen und die Nettoexporte sinken. Entgegengerichtet wirkt freilich die Zunahme der konjunkturabhängigen Investitionen. Der Schnittpunkt der Defizitfunktion mit der SINX-Funktion markiert das gleichgewichtige Sozialprodukt und die dazu gehörige Staatsverschuldung. Beide Größen hängen voneinander ab und lassen sich nur in ihrem wechselseitigen Zusammenhang begreifen.

Abbildung 1 zeigt eine Volkswirtschaft, deren Produktionspotential zunächst normal ausgelastet ist. Bei Yn entsprechen die Staatseinnahmen den Staatsausgaben, d.h. es liegt kein strukturelles Defizit vor. Diese Konstellation eignet sich als Ausgangslage für die Analyse der Frage, wie eine Volkswirtschaft in die Rezession geraten und welchen Beitrag der Staat zur Behebung der Krise leisten kann.

Automatische Stabilisatoren und konjunkturbedingte Defizite

Eine Rezession kann auf eine Senkung der privaten Ausgaben zurückgehen. Der Nachfragerückgang verschiebt die SINX-Funktion nach oben und verlagert den Schnittpunkt mit der Defizitfunktion von Punkt a zu Punkt b. Das gleichgewichtige Sozialprodukt sinkt auf das konjunkturbedingt niedrigere Niveau Yk. Zugleich wächst das staatliche Budgetdefizit infolge der konjunkturbedingten Mindereinnahmen und Mehrausgaben für Arbeitslose. Dieses Defizit kommt ohne staatliches Handeln als Reflex der ungünstigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zustande und wird daher als konjunkturbedingtes Defizit (Dk) bezeichnet.

Das konjunkturbedingte Defizit trägt zur Stabilisierung des Sozialprodukts bei. Dieser hilfreiche Effekt erschließt sich nur bei einem Vergleich der passiven Stabilisierung mit einer Parallelpolitik. Will der Staat im Falle einer Rezession seinen Haushalt unverändert ausgeglichen halten, so muss er seine Ausgaben reduzieren oder seine Einnahmen erhöhen, um die konjunkturbedingten Deckungslücken zu kompensieren. Eine Ausgabensenkung verlagert die Defizitfunktion parallel nach unten, bis sie die SINX'-Funktion auf der Sozialproduktsachse schneidet. Der Punkt c markiert somit das Gleichgewicht bei Parallelpolitik.

Die Differenz zwischen Yp und Yk ist den automatischen Stabilisatoren geschuldet. Die meisten Ökonomen sprechen sich dafür aus, die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, vergessen aber häufig, die damit verbundenen konjunkturbedingten Defizite als notwendige Begleiterscheinung zu benennen. Angesichts der verbreiteten Vorurteile gegenüber der Staatsverschuldung sollte man in der finanzpolitischen Debatte die Nützlichkeit der konjunkturbedingten Defizite sehr viel stärker betonen.

Diskretionäre Fiskalpolitik und antizyklische Defizite

Abbildung 1 liefert mit der passiven Stabilisierung den Ausgangspunkt für eine darüber hinausgehende aktive Stabilisierung der Volkswirtschaft mit konjunkturpolitischen Maßnahmen. Wenn das System in die Krise geraten ist, kann der Staat versuchen, den privaten Nachfrageausfall durch Mehrausgaben oder Steuersenkungen zu kompensieren. Abbildung 2 zeigt die Wirkungen eines Konjunkturprogramms mit höheren Ausgaben für öffentliche Investitionen.

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Ohne aktive Fiskalpolitik verharrt die Volkswirtschaft in einem keynesianischen Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung, markiert durch den Schnittpunkt a der ursprünglichen Defizitfunktion mit der konjunkturell verschobenen SINX'-Funktion. Die zusätzlichen Staatsausgaben verschieben die Defizitfunktion parallel nach oben und vergrößern zunächst in vollem Umfang das Staatsdefizit. Der Übergang vom Gleichgewichtspunkt a auf der alten zum Punkt b auf der neuen Defizitfunktion reflektiert nur die Kreditaufnahme für das Konjunkturprogramm. Die durch Verausgabung entstehenden direkten Nachfrageeffekte und der im Aufschwung hinzutretende Anstieg der Privatnachfrage sorgen jedoch für ein Wachstum des Sozialprodukts auf Yn.

Der Schnittpunkt c der verschobenen D'-Funktion mit der SINX'-Funktion markiert das neue Gleichgewicht. Gegenüber der Rezessionslösung ist das antizyklische Defizit (Da) weit weniger gestiegen als die Staatsausgaben. Der Aufschwung hat den öffentlichen Haushalt durch Mehreinnahmen und Ausgabenersparnisse entlastet. Bei einer realistischen Konjunkturelastizität des öffentlichen Haushalts von t = 0,5 würde ein Staatsausgabenmultiplikator von 2 genügen, um das antizyklische Defizit im dadurch induzierten Aufschwung komplett verschwinden zu lassen (Schuldenparadox).

Die erheblichen Selbstfinanzierungseffekte antizyklischer Maßnahmen dürfen nicht als konjunkturbedingte Haushaltsverbesserung verbucht werden, denn sie fußen allein auf staatlichen Stützungsmaßnahmen. Deren Wegfall würde die Wirtschaft in die Rezession zurückfallen und dort verharren lassen, solange private Auftriebskräfte ausbleiben. Bei Normalauslastung liegt demzufolge nun ein Gesamtdefizit vor, dass sich aus einem konjunkturbedingten Defizit sowie einem antizyklischen Restdefizit zusammensetzt.

Aktive Konsolidierung der strukturellen Defizite

Gemeinhin wird nur zwischen strukturellen und konjunkturellen Defiziten differenziert. Erstere umfassen das Haushaltsfehlbeträge, die auch bei Normalauslastung vorliegen würden, letztere die auslastungsbedingten Abweichungen davon. Demnach wäre auch das in Abbildung 2 dargestellte Gesamtdefizit bei Normalauslastung struktureller Natur. Tatsächlich resultiert es aber ausschließlich aus der passiven und aktiven Stabilisierung in der Rezession.

Die Gleichsetzung des strukturellen Defizits mit dem Defizit bei Normalauslastung kann nicht überzeugen. Im Grunde umfasst das strukturelle Defizit nur Schulden, die abgebaut werden können, ohne Produktion und Beschäftigung zu beeinträchtigen. Sein Ausmaß lässt sich nicht leicht quantifizieren. Klar ist jedoch, dass eine aktive Konsolidierung nicht schon in der Rezession beginnen kann. Abbildung 3 illustriert diesen Sachverhalt für eine Volkswirtschaft, die mit einem strukturelles Defizit (Ds) in die Rezession hineingegangen ist.

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Infolge eines Rückgangs der Privatnachfrage befindet sich die Volkswirtschaft im Gleichgewichtspunkt a beim Unterbeschäftigungssozialprodukt Yk. Der Staatshaushalt weist daher neben dem strukturellen auch ein konjunkturbedingtes Defizit Dk auf. Der Staat könnte nun versuchen, das strukturelle Defizit über Ausgabenkürzungen zu konsolidieren. Dazu müsste er die Defizitfunktion nach unten auf D' verschieben. Die D'-Funktion schneidet die Sozialproduktsachse bei Yn, so dass bei Normalauslastung kein Defizit mehr existieren würde. Bei Yk scheint demzufolge in Punkt b nur noch das allseits akzeptierte konjunkturbedingte Defizit vorzuliegen.

Der Konsolidierungsversuch, der mit einer Bewegung von Punkt a nach Punkt b verbunden ist, bleibt aber nicht folgenlos. Die Minderausgaben des Staates haben einen negativen Multiplikatoreffekt, so dass Yk nicht aufrechterhalten werden kann. Das neue Gleichgewicht liegt vielmehr im Schnittpunkt c der nach unten verschobenen Defizitfunktion mit der aktuell relevanten SINX'-Funktion. Das Sozialprodukt sinkt infolge der staatlichen Sparpolitik auf Yd und das dazu gehörige Defizit steigt auf Dd.

Der Konsolidierungsversuch misslingt, weil der Staat durch den Nachfrageausfall die Haushaltslöcher wieder aufreißt, die er mittels reduzierter Ausgaben eigentlich schließen wollte. Die Defizitquote kann dabei ohne weiteres steigen, weil sich das neue Defizit Dd auf das geringeres Sozialprodukt Yd bezieht. Dass der öffentliche Haushalt strukturell ausgeglichen wäre, wenn trotz Sparpolitik Vollbeschäftigung herrschen würde, ist nur ein schwacher Trost.

Abbildung 3 zeigt, dass die verschiedenen Defizitarten aufeinander aufbauen. Soll ein konjunkturbedingtes Defizit zustande kommen, so muss ein vor Rezessionsbeginn bereits vorhandenes strukturelles Defizit weiter hingenommen werden. Man kann nicht für konjunkturbedingte Defizite, also gegen eine Parallelpolitik eintreten, und zugleich mit dem schnellen Abbau des strukturellen Defizits das Gegenteil fordern. Ebenso wenig ist es möglich, expansive Finanzpolitik mittels antizyklischer Maßnahmen zu betreiben, ohne die konjunkturbedingten und strukturellen Ausgangsdefizite in Kauf zu nehmen.

Fazit

Die Interdependenzen zwischen Staatshaushalt und konjunktureller Entwicklung werden zu wenig beachtet. Eine korrekte Differenzierung zwischen konjunkturbedingten, antizyklischen und strukturellen Defiziten liefert eine bessere Basis für die Analyse der Konjunkturwirkungen und schärft das Bewusstsein für die Möglichkeiten und Grenzen einer Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.


2012 © Wolfgang Scherf

Finanzwissenschaftliche Arbeitspapiere 87-2012
Der Beitrag ist auch erschienen auf Ökonomenstimme